Ich hatte einen 7-jährigen Jungen aus einem Patenprokjekt bei mir. Er war gerade in dem Jahr eingeschult worden und hatte einige Probleme dort – einerseits, weil er „der Diener“ einer Gruppe von Stärkeren sei, andererseits auch in den Fächern.
Mein Angebot, ihm ein paar Rechentricks zu zeigen, stieß auf Interesse. Hier ist noch einmal zur Erinnerung die Dritte Binomische Formel:
(a-b) * (a+b) = a2 - b2 Beispiel: 7*9 = 82-12
Wer also die Quadrate kennt, kann auch die angrenzenden Zahlen miteinander multiplizieren.
Wo ich ihm die ersten Ergebnisse noch in den Mund gelegt hatte, war er mit zunehmender Begeisterung bei der Sache, und auch der umgekehrte Weg war keine Herausforderung für den Jungen. Etwa in diesem Moment rief mich dann seine Mutter an und bat mich darum, noch die Hausaufgaben mit ihm zu erledigen … in Mathematik.
Was folgte, war ein Ausbruch von Wut und Hilflosigkeit. Mathematik, die auf zwei Blätter passen sollte, aufgeblasen auf eine Kladde der Halb-Kilo Klasse aus dem Schrödel-Verlag, flog auf den Fussboden, der Junge schrie und heulte Rotz und Wasser:
ICH HASSE MATHE !
Warum nur haben fast alle Kinder, mit denen ich zu tun hatte, eine solche Abneigung gegen dieses Fach? Nach meiner Überzeugung liegt es an der Didaktik.
Die Didaktik, das „Was“ des Unterrichts, besteht in unserer modernen Pädagogik darin, die Kinder ab der ersten Klasse an das eigenständige Problemlösen zu gewöhnen - ein Irrweg.
Kinder lieben es Aufgaben zu lösen, mit immer anderen Zahlen, mit anderen Kindern um die Wette zu rechnen – wenn sie erst den Weg verstanden haben.
Statt auf diese Weise wichtige Automatismen anzutrainieren, liegt an unseren staatlichen Grund- und weiterführenden Schulen in Mathematik der Fokus darauf, Texte zu interpretieren. Und wenn dann mit Mühe und Not klar geworden ist was wohl diesmal zu tun sei, so werden drei Beispiele gerechnet und es folgt die nächste Zumutung:
"Oh, schaut nur liebe Kinder, eine Wühlmaus hat die Zahlen durcheinandergebracht (ach wie ist das lustig)!"
Es muss frustrierend sein, auf diese Weise zu unterrichten: Kinder zu sehen, die von Tag zu Tag missmutiger werden, teilweise völlig blockieren; zu sehen, dass die anvertrauten Grundschüler nur dann dem Unterricht zu folgen vermögen, wenn sie zu Hause Unterstützung erfahren und auch nur dann, wenn sie deutsche Muttersprachler sind; zu sehen, dass manche Kinder nach 5 Jahren purem Frust von der Grundschule abgehen, ohne auch nur das Zahlensystem verstanden zu haben.
Doch nicht nur das:
Man sollte annehmen, dass sich die gewerkschaftlich organisierte Lehrerschaft wenigstens über ganz entrückte ministeriale Anordnungen hinwegsetzt, vielleicht Proteste auf den Weg bringt - wie es ja auch kein Problem ist, wenn es um höhere Gehälter geht. Sie tun es aber nicht.
Ob es das Schreiben nach Gehör ist, die Abschaffung der Schreibschrift, der chronische Bewegungsmangel zu den Schulzeiten oder das dumme Hin-und Herschleppen sinnlos aufgeblähter Bücher. Ob Englischunterricht wo die deutsche Sprache oft noch mangelhaft beherrscht wird, ob Inklusion oder die Beschränkung des Systems der Bildungsgutscheine auf die Angehörigen der eigenen Kaste - sie folgen ihrem zuständigen Ministerium.
Was ist denn mit der Verpflichtung gegenüber den anvertrauten Kindern als dem übergeordneten Ziel über den Ideen einzelner Führungspersonen oder -Cliquen? Wo ist es, das gelassene und selbständig handelnde Denken unserer Staatsdiener, das Handeln nach Auftrag, dieser so wichtige Bestandteil unserer kulturellen Wurzeln – statt, überspitzt formuliert, dem jeweiligen Tagesmotto hinterher zu rennen?
Wenigstens stimmt die Bezahlung in diesem harten Job:
A12/Stufe 4 ist das Einstiegsgehalt für eine Grundschullehrerin direkt nach dem Vorbereitungsdienst in den meisten Bundesländern, entsprechend einem Jahres-Brutto von rund 60.000 Euro in der freien Wirtschaft.
Zum Thema Seiteneinstieg von Facharbeitern, Wissenschaftlern oder Ingenieuren schreibt das Ministerium für Schule und Bildung des Landes NRW:
"In den Fächern Mathematik und Deutsch ist der Seiteneinstieg in der Grundschule nicht möglich, denn in diesen Fächern sind die Anforderungen besonders hoch. Die Vermittlung dieser beiden Fächer erfordert fundiertes fachliches und didaktisches Wissen sowie vertiefte Kenntnisse über die Entwicklungsphasen der Schülerinnen und Schüler. Lehrkräfte für die Grundschule werden hierfür sowohl im Studium (10 Semester), als auch im 18 Monate langen Vorbereitungsdienst ausgebildet." |
Angesichts der Ergebnisse – nicht nur an den Grundschulen – halte ich diese Aussage für Selbstüberhöhung:
Wenn die über Jahre solch "fundiertem fachlichem und didaktischem Wissen" ausgesetzten Kinder ohne Intervention von Eltern, Bekannten oder Nachhilfelehrern am Ende nicht einmal die Funktionsweise unseres Zahlensystems verinnerlichen, dann wird der Wert dieser Ausbildung überschätzt.
Da seitens der Pädagogen in Schulen und Ministerien keine Einsicht zu erwarten ist, muss im Interesse derjenigen Kinder, die mit dem Unterricht so nicht klarkommen, die Schulpflicht durch eine Bildungspflicht ersetzt werden.
Update 8/2023
Der Stadtstaat Hamburg, der in der günstigen Lage ist, zugleich Schulträger, Schulaufsicht und Kultusbehörde in einem zu sein, hat mit einer intensiven Leseförderung gute Ergebnisse erzielt und ist im bundesweiten Ranking weit nach oben geklettert. Zum dort verwendeten Instrumentenkasten gehören unter anderem sogenannte «Lesebänder» – 20 Minuten an jedem Schultag, in denen, unabhängig vom Fach, laut gelesen wird.
Quelle: nzz.ch (Paywall)