Moralische Kompetenz
Moralische oder auch demokratische Kompetenz ist nach Lind die Fähigkeit, Argumente anhand ihrer moralischen Qualität zu beurteilen sowie die Fähigkeit der Problem- und Konfliktlösung durch Denken und Diskussion.
Denkfähigkeit in diesem Zusammenhang meint aber nicht die Fähigkeit zu einem kontemplativen Denken, sondern die Fähigkeit, zwischen gegensätzlichen Gewissheiten abzuwägen, moralische Dilemmas zu lösen und mit Andersdenkenden zu diskutieren, auch und gerade dann, wenn die Angst das Denken und Diskutieren zu lähmen droht.
Moralische Orientierung
Eine moralische Orientierung ("Ich bin Demokrat", "Ich würde niemals Rechts wählen", ...) ist dagegen für die lebendige Demokratie wertlos. Sie meint in diesem Zusammenhang die Meinungs- und Autoritäts-Konformität. Die moralische Orientierung lässt sich im Gegensatz zur moralischen Kompetenz zwar simulieren, kann jedoch recht einfach enttarnt werden:
Moralisch inkompetente Menschen gehen auf Argumente nicht ein, sondern beurteilen diese auf Basis der Übereinstimmung mit der eigenen Meinung. Ihre Mittel der Konfliktlösung sind Gewalt, Betrug, Ignorieren oder die Unterwerfung unter eine Autorität.
Selbst die besten Argumente prallen an ihnen ab, selbst die unsinnigsten werden verwendet, wenn sie die eigene Meinung stützen.
Der MKT: Moralische Kompetenz meßbar gemacht
Der Unterschied zwischen moralisch kompetenten und moralisch inkompetenten Menschen zeigt sich eindrücklich im von Lind selbst entwickelten MKT (Moralische Kompetenz-Test). Dieser misst drei Parameter:
- Die Orientierung an der Meinungs-Konformität des Arguments
- Die Orientierung an der Autorität des Forschers
- Die Orientierung an der moralischen Qualität des Arguments
Der Index für Moralkompetenz im MKT ist der “C-Wert” (für Competence). Die Skala reicht von 0 bis 100:
- 0: Der Teilnehmer kann eine Meinung nicht von einem Argument unterscheiden
- 20: Völlige Akzeptanz (”+4") meinungskonformer Argumente, völlige Ablehnung aller Gegenargumente (”-4")
- 50: Akzeptanz meinungskonformer Argumente, wenn sie moralisch angemessen sind
- 100: Der Teilnehmer akzeptiert auch Gegenargumente, wenn er sie für moralisch angemessen hält
Für Deutschland liegt nach diesen Messungen der mittlere MKT-Score unter 20, also in einem Bereich, in dem Demokratie eigentlich nicht möglich sein sollte bzw. akut gefährdet ist.
Ein pädagogischer Ansatz
Freiheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Zusammenarbeit seien ohne demokratische Kompetenz nicht zu halten, ohne diese eine Demokratie nicht dauerhaft. Der Mangel an Denkfähigkeit sei aber nicht, wie Kant meint, vom Einzelnen selbst verschuldet, sondern Folge einer ungenügenden Vorbereitung der Menschen auf das Leben in einer Demokratie durch die Schule.
Linds Ansatz für eine demokratischere Gesellschaft ist folglich pädagogischer Art und besteht in der Heranbildung moralischer Kompetenz mittels seiner Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD). Bereits im Schulalter solle so die Fähigkeit, Probleme und Konflikte demokratisch durch Denken und Diskutieren zu lösen, trainiert werden.
Im Gegensatz zu anderen Ansätzen (wie der Methode nach Kohlberg) steht dabei nicht das Dilemma selbst im Vordergrund - welches häufig nicht eindeutig gelöst werden kann und dessen Lösung vorzugeben nicht Aufgabe des Trainers sein kann - sondern die Auseinandersetzung mit den Gegenargumenten.
Ziel ist also nicht die Vermittlung einer erwünschten moralischen oder ideologischen Position bzw. einer Konformität mit extern vorgegebenen Normen, sondern das Anregen und die Entwicklung eigenen moralischen Denkens, die Vermittlung von Einsicht auch für Argumente von "Nicht-Freunden" und die Erzielung von Angstfreiheit beim Vorbringen eigener Ansichten.
KMDD
Die Dilemmadiskussion nach der Methode KMDD hat nur wenige Regeln:
- Teilnehmer: Zwei "gegnerischen" Gruppen zu jeweils 3-4 Teilnehmern
- Der Lehrer oder Coach zieht sich nach An-Moderation und Präsentation des Dilemmas als Moderator zurück.
- Der Redner bestimmt jeweils den nachfolgenden Redner aus der "gegnerischen" Gruppe und übernimmt währen der Rede des Nachfolgers selbst die Moderation.
- In Übereinstimmung mit Art.3 GG darf darf von den Teilnehmern jede Ansicht geäussert werden
- Persönliche Wertung (Lob, Tadel) ist nicht erlaubt.
- Dauer: 90 Minuten
- Häufigkeit: Nur etwa jährlich (um Ermüdung und Übersättigung zu unterbinden).
Lt. Georg Lind sind durch Anwendung von KMDD im Gegensatz zu anderen Methoden mit geringem zeitlichen Aufwand erhebliche Verbesserungen im MKT-Score zu erreichen, d.h. eine stärkere Gewichtung der Qualität der Argumente.
Bei einem systematischen Roll-Out würden je Schule nur ein oder zwei entsprechend geschult Lehrkräfte gebraucht.
Der kritische Geist trifft Unterscheidungen, und zu unterscheiden ist ein Zeichen von Modernität. In der modernen Kultur preist die wissenschaftliche Gemeinschaft den Dissens als ein Mittel zur Vermehrung des Wissens. Für den Ur-Faschismus ist Dissens Verrat.
(Umberto Eco, Der immerwährende Faschismus)
It is the moral judgment that we propose to investigate, not moral behavior or sentiment.
(Jean Piaget, 1962, S.7)
Die Schaffung einer kritischen Masse mündiger Bürger stellt ...einen Bildungsauftrag für Aktivisten verschiedener demokratischer Bürgerbewegungen dar.
("Regimekritiker Dracula", Redaktion Freier Funke)
if we want to raise up a generation of freedom fighters who will actually operate with justice, fairness, accountability and equality towards each other and their government, we must start by running the schools like freedom forums.
("TYLER DURDEN", Zerohedge.com)
Georg Lind verstarb 2021.
Quellen und Verweise
- Psychologie Heute
- dieBasis Podcast #73
- Einführung in die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) von Georg Lind, Universität Konstanz (PDF)
- schule-bw.de: Materialien
- Ablaufschema KMDD:
- Sammlung Dilemmata
- Lind: Panik als Seuche
- Georg Lind: Wie kann man moralische Orientierung im Verhalten erkennen?
- "Regimekritiker Dracula" - Artikel aus dem Umfeld der Freien Linken zum Thema Ideologie, Abgrenzung und einer der Demokratie würdigen Diskussionskultur (archive.org):
- Formen von Etikettierung (Sprachkosmetik, Nazivergleiche...)
- Chancen, Risiken und Unterwanderung von Oppositionsbewegungen
- Der kritisch-fortschrittliche mündige Bürger als Basis und Retter der Demokratie.
- Die Spielregeln des zivilisierten Widerstreits und die Folgen der Regelmissachtung.
- Ein weiterer pädagogischer Ansatz zur Stärkung der demokratischen Kompetenz der Heranwachsenden könnte das verstärkte Training der Dialektik sein. Zu jeder Aussage sind dabei alternative Sichtweisen oder sogar das glatten Gegenteil zu betrachten, bis diese Praxis zur Selbstverständlichkeit wird. Artikel bei den Deutschen Wirtschafts Nachrichten (Paywall)
- Die Ergebnisse von Georg Lind entsprechen denen des Psychologen Stanley Milgram , nach dessen Forschungsergebnissen nur etwa 20 % der Menschen die geistige Kapazität besitzen, sich den Anordnungen einer Autoritätsperson zu widersetzen. Im Milgram Experiment wurden "Lehrer" (Probanden) dazu aufgefordert, ihre "Schüler" (in Wirklichkeit Schauspieler) mit Elektroschocks von bis zu 450 Volt zu bestrafen, was in der Realität zum Tode der so Bestraften hätte führen können.