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Moralische Kompetenz und moralische Orientierung

Submitted on Wed, 27.04.2022 - 23:46

Dr. Georg Lind, geb. 1947, war bis 2010  Professor für Psychologie an der Universi­tät Konstanz. Sein Interesse galt der demo­kratischen Kompetenz und deren Abgrenzung zur morali­schen Orientie­rung. Nach seinen Tests sind nur etwa 20% der Bevöl­kerung Deutsch­lands moralisch kompetent - zu wenig für eine stabile Demokratie. Seine Methode der Dilemma-Diskussion als päda­gogischer Ansatz könnte ein Ausweg sein.


 

Moralische Kompetenz

Moralische oder auch demo­kratische Kompetenz ist nach Lind die Fähigkeit, Argumente anhand ihrer mora­lischen Qualität zu beur­teilen sowie die Fähigkeit der Problem- und Konflikt­lösung durch Denken und Diskussion.

Denkfähigkeit in diesem Zusammen­hang meint aber nicht die Fähigkeit zu einem kontem­plativen Denken, sondern die Fähigkeit, zwischen gegen­sätzli­chen Gewiss­heiten abzuwägen, moralische Dilemmas zu lösen und mit Anders­denkenden zu disku­tieren, auch und gerade dann, wenn die Angst das Denken und Diskutieren zu lähmen droht.

 

Moralische Orientierung

Eine moralische Orientie­rung ("Ich bin Demokrat", "Ich würde niemals Rechts wählen", ...) ist dagegen für die leben­dige Demokratie wert­los. Sie meint in diesem Zusammen­hang die Meinungs- und Autoritäts-Konformität. Die moralische Orientie­rung lässt sich im Gegensatz zur moralischen Kompetenz zwar simu­lieren, kann jedoch recht einfach ent­tarnt werden:

Moralisch inkompetente Men­schen gehen auf Argumente nicht ein, sondern beur­teilen diese auf Basis der Überein­stimmung mit der eigenen Meinung. Ihre Mittel der Konflikt­lösung sind Gewalt, Betrug, Ignorieren oder die Unter­werfung unter eine Autorität.

Selbst die besten Argu­mente pral­len an ihnen ab, selbst die un­sinnigsten werden ver­wendet, wenn sie die eigene Meinung stützen.

 

Der MKT: Moralische Kompetenz meßbar gemacht

Der Unterschied zwischen moralisch kompetenten und moralisch inkompetenten Menschen zeigt sich eindrück­lich im von Lind selbst ent­wickelten MKT (Mora­lische Kompetenz-Test). Dieser misst drei Para­meter:

  • Die Orientierung an der Meinungs-Konformität des Arguments
  • Die Orientierung an der Autorität des Forschers
  • Die Orientierung an der moralischen Qualität des Arguments

Der Index für Moralkompetenz im MKT ist der “C-Wert” (für Competence). Die Skala reicht von 0 bis 100:

  • 0: Der Teilnehmer kann eine Meinung nicht von einem Argument unterscheiden
  • 20: Völlige Akzeptanz (”+4") meinungs­kon­former Argu­mente, völlige Ableh­nung aller Gegen­argumente (”-4")
  • 50: Akzeptanz meinungs­konformer Argu­mente, wenn sie moralisch ange­messen sind
  • 100: Der Teilnehmer akzeptiert auch Gegen­argu­mente, wenn er sie für mora­lisch ange­messen hält
Der MKT (Beispiel)
Der MKT:
Links: Völlige Ablehnung (-4) oder völlige Überein­stimmung (+4) unabhängig von der Qualität der Argumente (geringer C-Score).
Rechts: Ablehnung oder Überein­stimmung abhängig von der Qualität der Argumente (hoher C-Score).

 

Für Deutschland liegt nach diesen Messungen der mitt­lere MKT-Score unter 20, also in einem Bereich, in dem Demokratie eigent­lich nicht möglich sein sollte bzw. akut gefährdet ist.

 

Ein pädagogischer Ansatz

Freiheit, Gerechtig­keit, Wahrheit und Zusammen­arbeit seien ohne demokra­tische Kompetenz nicht zu halten, ohne diese eine Demo­kratie nicht dauer­haft. Der Mangel an Denk­fähigkeit sei aber nicht, wie Kant meint, vom Einzelnen selbst ver­schuldet, sondern Folge einer ungenü­genden Vorberei­tung der Menschen auf das Leben in einer Demokratie durch die Schule.

Linds Ansatz für eine demokra­tischere Gesell­schaft ist folglich pädagogi­scher Art und besteht in der Heran­bildung moralischer Kompetenz mittels seiner Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD). Bereits im Schulalter solle so die Fähigkeit, Probleme und Konflikte demo­kratisch durch Denken und Disku­tieren zu lösen, trainiert werden.

Im Gegensatz zu anderen Ansätzen (wie der Methode nach Kohlberg) steht dabei nicht das Dilemma selbst im Vorder­grund - welches häufig nicht ein­deutig gelöst werden kann und dessen Lösung vorzu­­geben nicht Aufgabe des Trainers sein kann - sondern die Auseinander­­setzung mit den Gegen­­argumenten.

Ziel ist also nicht die Vermitt­­lung einer erwünschten morali­schen oder ideolo­gischen Position bzw. einer Konformität mit extern vorge­­gebenen Normen, sondern das Anregen und die Entwicklung eigenen mora­lischen Denkens, die Ver­mittlung von Einsicht auch für Argumente von "Nicht-Freunden" und die Erzielung von Angst­­freiheit beim Vorbringen eigener Ansichten.

 

KMDD

Die Dilemma­diskussion nach der Methode KMDD hat nur wenige Regeln:

  1. Teilnehmer: Zwei "gegnerischen" Gruppen zu jeweils 3-4 Teilnehmern
  2. Der Lehrer oder Coach zieht sich nach An-Moderation und Präsentation des Dilemmas als Moderator zurück.
  3. Der Redner bestimmt jeweils den nach­fol­genden Redner aus der "gegnerischen" Gruppe und übernimmt währen der Rede des Nachfolgers selbst die Moderation.
  4. In Übereinstimmung mit Art.3 GG darf darf von den Teilnehmern jede Ansicht geäussert werden
  5. Persönliche Wertung (Lob, Tadel) ist nicht erlaubt.
  6. Dauer: 90 Minuten
  7. Häufigkeit: Nur etwa jährlich (um Ermüdung und Übersättigung zu unterbinden).

 

Lt. Georg Lind sind durch Anwendung von KMDD im Gegensatz zu anderen Methoden mit geringem zeit­­lichen Aufwand erheb­liche Verbesserungen im MKT-Score zu erreichen, d.h. eine stärkere Gewichtung der Qualität der Argumente.

Bei einem syste­matischen Roll-Out würden je Schule nur ein oder zwei entspre­chend geschult Lehrkräfte gebraucht.

 


 

 

Der kritische Geist trifft Unterscheidungen, und zu unter­scheiden ist ein Zeichen von Modernität. In der modernen Kultur preist die wissen­schaftliche Gemein­schaft den Dissens als ein Mittel zur Vermehrung des Wissens. Für den Ur-Faschismus ist Dissens Verrat.

(Umberto Eco, Der immerw­ährende Faschismus)

 

 

It is the moral judgment that we propose to investigate, not moral behavior or sentiment.

(Jean Piaget, 1962, S.7)

 

 

Die Schaffung einer kritischen Masse mündiger Bürger stellt ...einen Bildungsauftrag für Aktivisten verschiedener demokratischer Bürgerbewegungen dar.

("Regimekritiker Dracula", Redaktion Freier Funke)

 

 

if we want to raise up a generation of freedom fighters who will actually operate with justice, fairness, accountability and equality towards each other and their government, we must start by running the schools like freedom forums.

("TYLER DURDEN", Zerohedge.com)

 

Georg Lind verstarb 2021.

 


Quellen und Verweise


 

  • Psychologie Heute
  • dieBasis Podcast #73
  • Einführung in die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD) von Georg Lind, Universität Konstanz (PDF)
  • schule-bw.de: Materialien
  • Ablaufschema KMDD:
  • Sammlung Dilemmata
  • Lind: Panik als Seuche
  • Georg Lind: Wie kann man moralische Orientierung im Verhalten erkennen?
  • "Regimekritiker Dracula" - Artikel aus dem Umfeld der Freien Linken zum Thema Ideologie, Abgrenzung und einer der Demokratie würdigen Diskussionskultur (archive.org):
    • Formen von Etikettierung (Sprachkosmetik, Nazivergleiche...)
    • Chancen, Risiken und Unterwanderung von Oppositionsbewegungen
    • Der kritisch-fortschrittliche mündige Bürger als Basis und Retter der Demokratie.
    • Die Spielregeln des zivilisierten Widerstreits und die Folgen der Regelmissachtung.
  • Ein weiterer pädagogischer Ansatz zur Stärkung der demokratischen Kompetenz der Heran­wachsenden könnte das verstärkte Training der Dialektik sein. Zu jeder Aussage sind dabei alternative Sichtweisen oder sogar das glatten Gegenteil zu betrachten, bis diese Praxis zur Selbst­verständlich­keit wird. Artikel bei den Deutschen Wirtschafts Nachrichten (Paywall)

 

  • Die Ergebnisse von Georg Lind entsprechen denen des Psychologen Stanley Milgram , nach dessen Forschungsergebnissen nur etwa 20 % der Menschen die geistige Kapazität besitzen, sich den Anordnungen einer Autoritätsperson zu widersetzen. Im Milgram Experiment wurden "Lehrer"  (Probanden) dazu aufgefordert, ihre "Schüler" (in Wirklichkeit Schauspieler) mit Elektroschocks von bis zu 450 Volt zu bestrafen, was in der Realität zum Tode der so Bestraften hätte führen können.