Zunächst einmal: Mein Respekt vor dem, was die Kurden in den letzten Jahren und Jahrzehnten geleistet haben und unter welchen Opfern, um als Nation zu überleben!
Ich bin trotzdem nicht davon überzeugt, dass die Türken kein legitimes Interesse hätten, das Grenzgebiet wenigstens in Teilen unter ihre Kontrolle zu bringen:
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Die Kurden arbeiten seit jeher darauf hin, ihren eigenen Staat zu gründen (was ihnen ja durchaus gönnen wäre). Den späteren Griff nach türkischen Gebieten könnte man möglicherweise prognostizieren bzw. ist aus türkischer Sicht zu befürchten. Der Vergleich mit der polnisch/deutschen Geschichte drängt sich auf. Eine Pufferzone wie sie Erdogan anstrebt und wie sie jetzt mit verringertem Umfang und in Absprache der Kriegsparteien untereinander umgesetzt wird, dürfte das Problem entschärfen.
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Die Türkei hat 3 Millionen syrische Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, die auch irgendwoher gekommen sind. Vermutlich nicht wenige davon stammen aus genau denjenigen Gebieten, die nun kurdisch beherrscht werden(1). Es scheint mir daher nachvollziehbar, fordert man hier die wenigstens eine teilweise Wiederansiedlung, und schafft man den Raum notfalls mit Gewalt (ob erlittenes Unrecht so wettgemacht werden kann, ist eine andere Frage).
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Wenn man annimmt, dass die syrischen Flüchtlinge nicht auf ewig in der Türkei bleiben können oder wollen, dann ist das Handeln der Türkei, wenn man nun langsam mit der Rückführung beginnen will, nicht nur nachvollziehbar, sondern ausserdem im Interesse der EU.
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Postuliert man eine Bedrohung der Türkei durch kurdische Kräfte, so wäre der Einmarsch möglicherweise durch das Adana Abkommen(2) von 1998 gedeckt, welches den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus regelt. Insbesondere wird darin die PKK durch beide Seiten als terroristische Organisation eingestuft. Ob eine solche Bedrohung tatsächlich vorliegt, ist allerdings umstritten.
Nun haben sich die USA aus einem sinnlosen Patt erst einmal verabschiedet und siehe da: Wo bisher kein Dialog zwischen Türken und Kurden möglich war, können sie es plötzlich doch:
Die Türken rücken derzeit - wohl in Absprache mit den Russen - von ihrer Maximalforderung ab, die Kurden respektieren im Augenblick die kleinere Pufferzone, wenn auch notgedrungen. Vielleicht sind 5000 Jahre Erfahrung mit Krieg, Eroberung und Verhandlungsführung in der Region ja doch nicht völlig vergebens gewesen? (3)
Allein wegen des Vergleichs mit der eigenen Geschichte wird es aber keine deutsche Stelle wagen auch nur anzudeuten, dass die Türkei in dieser Sache irgendeine Legitimation haben könnte.
Nachtrag 4.3.2020
Es sieht so aus, als würde das vitale Interesse der Türkei an einem befriedeten Sicherheitskorridor nun langsam anerkannt. (4)
(1) Vertreter verschiedener Minderheiten berichten über Vertreibungen durch kurdische Kräfte. Quelle:theepochtimes.com
(2) Adana Abkommen zwischen Türkei und Syrien
(3) Laut dem damaligen CIA Chef George Tennet ("At the Center of the Storm") hatte man sich in jedem Detail auf den zweiten Irakkrieg vorbereitet, aber nicht in einer einzigen Sitzung darüber geredet, was anschliessend geschehen sollte. Genau das, nämlich wie man nach einem gewonnenem Krieg ein Land reibungslos von den vorherigen Machthabern übernimmt, hätte der damalige Gouverneur Bremer aus der Geschichte der Region um 3000 a.D. lernen können: Man erhält die Verwaltungsstrukturen. Das ganze Chaos inklusive des Aufkommen des IS wäre gar nicht entstanden. Siehe auch Interview von Die Welt mit Sir Brian Burridge.
Auch Madonnas Film "Dick Tracy" hätte die Lösung gehabt: Youtube(englisch, ab ca. 2:14' )
(4) DWN
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